Mittwoch, 29. Mai 2013

Leistung, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit

Als Gesellschaft verstehen wir uns gut darauf, an Leistung zu glauben. Leistung ist fair, sie ist messbar, vergleichbar, transparent und egalitär. Für die modernen westlichen Gesellschaften war der Abschied von der Feudalgesellschaft und die Öffnung hin zur Leistungsgesellschaft ein Fortschritt, weil sie vermeintlich allen die gleichen Chancen einräumt.

Heute stoßen wir damit an die Grenzen. Nicht nur, weil wir es noch immer als ungerecht erleben, wenn Leistung und Be- bzw. Entlohnung auseinander fallen, sondern weil auch die Leistungsgesellschaft krass ungerecht ist. Jenen gegenüber, die aus den hegemonialen Vorstellungen von Erfolg, Leistung und Normalität ausscheren oder herausfallen.

Kaum ein anderer Begriff der Moderne hat so eine Strahlkraft wie Leistung. Als Leitbild der Gesellschaft, als Versprechen auf ein gutes Leben ist sie ein Trugbild, vielleicht sogar eine Lüge.

Ihre Komplizin, die Selbstbestimmung, verspricht uns neben Erfolg auch noch Glück und Freiheit, und macht sich damit noch ein Stück mehr strafbar, gemessen an den zu enttäuschenden Hoffnungen. TherapeutInnen und FreundInnen bestärken uns darin, auf unsere Bedürfnisse zu hören, unseren eigenen Weg zu gehen.

Die Selbstbestimmung, ihrerseits eine der Erzählungen, ist so weit eine Lüge, wie sie uns vormacht, wir hätten unser Leben in der Hand. Auch wenn moderne westliche Gesellschaften nie dagewesene Handlungsspielräume ermöglichen, sind wir doch immer nur so frei, wie unser Umfeld es zulässt, wie wir es gelernt haben und den Mut aufbringen, die Spielräume auch zu nutzen. Unser Leben ist jedoch fundamental unsteuerbar, wir sind von unseren Voraussetzungen, anderen Menschen und äußeren Einflüssen fundamental abhängig.

Solange unser Geburtsort und unsere soziale Herkunft eine derart große Wirkung auf unsere Biographie ausüben, solange unsere Gesellschaft sich auf Leistung und eine männliche Erwerbsbiographie mit Normalarbeitsverhältnis konzentriert, können wir das Versprechen, allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, das über die allen offene Schiene Leistung Erfolg in Aussicht stellt, auch nicht im Ansatz einlösen.

Unsere Selbstbestimmung ist immer begrenzt - und Leistung ein Sport für die Gesunden, Unbeschwerten und Gebildeten. Woran können wir dann noch glauben? Wie uns gegenseitig Mut zusprechen? Eine wirklich gerechte Gesellschaft müsste ihren Focus weg von den Erfolgreichen zu den Mutigen, den Strauchelnden, den Unorthodoxen richten. Von ihnen können wir lernen, sie brauchen uns. Vor allem brauchen wir einander - eine Erfolgs- und Leistungsgesellschaft wird zu einer Ellbogengesellschaft, eine gerechte Gesellschaft baut auf Solidarität, unterstützenden Beziehungen und reziprok verteilten Chancen auf. Jenen, die vor mehr Hürden stehen, müssen wir mehr Unterstützung anbieten. Und wenn wir einander ermutigen, selbstbestimmt zu leben, geht es eigentlich um die Empathie und die Unterstützung, die wir damit kommunizieren, und darum Selbstbestimmung nicht als Egoismus zu verstehen, sondern freie, tragfähige und aufmerksame Beziehungen zueinander aufzubauen.